Restrisiko – Über moderne Varianten von Russisch-Roulette

Das Risiko eines Reaktorunglücks ist nicht so gering, wie uns vielfach suggeriert wird. Denn auf unserem Kontinent steht nicht nur ein Reaktor …

Frühe Neunziger Jahre während meines Ingenieurs-Studiums: Ich sitze gerade mit Kommilitonen in der Werkskantine einer großen Druckerei. Wir sind auf einer Betriebsbesichtigung und eingeladen zu Rinderbraten mit Rotkohl und Kartoffelklößen. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen, mein Magen knurrt. Ich könnte jetzt glatt drei Portionen essen. »Nein danke. Für mich nichts«, lehne ich stattdessen freundlich ab. »Mir geht es heute nicht so gut.« »Stimmt, du siehst blass aus«, meinen die anderen, freilich ohne zu ahnen, dass das von meinem schrecklichen Hunger kommt.

Bin ich masochistisch veranlagt? Veganer? Wahnsinnig? Was treibe ich hier? Schuld am allem sind mal wieder meine kritischen, alles infrage stellenden Gedanken. Sie schreien ganz laut: »Nein, tu’s nicht! Das ist zu gefährlich!«

Wir sind gerade mitten auf dem Höhepunkt der BSE-Krise, dem Rinderwahnsinn – so einer Art Turbo-Alzheimer für Kühe. Auch in Deutschland gibt es die ersten BSE-Verdachtsfälle und ich habe das ungute Gefühl, dass dies nur die Spitze eines Eisbergs sein könnte, der gekonnt unter Wasser gehalten wird. Die wirtschaftlichen Interessen sind einfach zu groß für einen offenen Umgang mit dem Thema. Eine ernsthafte Warnung der Bevölkerung würde Milliarden »Schaden« anrichten und könnte einen ganzen Wirtschaftszweig ruinieren. Also wartet man erst einmal ab, bis es im Falle des Falles zu spät ist. Nach »derzeitigen Erkenntnissen« sähen »Experten« keine Gefahr für den Menschen beim Verzehr von Rindfleisch, heißt es von offizieller Seite. Also ganz ehrlich: »Derzeitige Erkenntnisse« sind mir zu vage bei einer Krankheit, von der befürchtet wird, dass sie nach der Ansteckung eventuell Jahre braucht, bis sie ausbricht und deren Erreger beim Kochen offenbar nicht abgetötet werden. Außerdem: Die Krankheit ist noch vollkommen unerforscht. Wie kann es da schon jetzt »Experten« geben? Und wie kann ich auf die Meinung dieser »Experten« eine Entscheidung gründen, bei der es um meine Gesundheit und letztlich um mein Leben geht? Wer wäre da wahnsinnig: ich oder die Kuh? Es hilft nichts, ich muss mir mein eigenes Urteil bilden. Die Aktenlage: Die Krankheit hat sich bereits auf mehrere andere Säugetierarten übertragen lassen. Allerdings wurde noch kein Fall eines erkrankten Menschen bekannt. Also schätze ich das Risiko, dass sich auch ein Mensch anstecken kann, einmal ziemlich optimistisch auf nur ein Prozent. Klar ist dieser Wert reine Spekulation, aber immer noch besser als gar kein Wert. Zumindest habe ich dann eine Annahme, auf die ich meine Entscheidungen stützen kann.

Ich überlege: Ein Prozent? Welche vergleichbaren Ein-Prozent-Risiken würde ich eingehen, wenn mein Leben davon abhinge? Würde ich in ein Flugzeug steigen, wenn jeder hundertste Flug abstürzen oder entführt würde? Nein! Würde ich einen Bungee-Sprung wagen, wenn die Seile in einem von hundert Fällen rissen? Nein! Würde ich mir am Kiosk ein Eis kaufen, wenn bekannt wäre, dass von hundert Tüten eine vergiftet ist? Niemals! Noch nicht einmal bei einem Risiko von eins zu 10.000 würde ich das tun. Das wäre reines Russisch Roulette. Und mit dem Verzehr von Rindfleisch? Wenn ich von meiner Risikoeinschätzung von einem Prozent ausgehe, kann die Entscheidung nur lauten: Nein, danke. Auch wenn mein Magen noch so laut knurrt.

Nachtrag: Gott sei Dank zeichnet sich heute ab, dass der »Worst-Case«, der schlimmste anzunehmende Fall in Sachen Übertragung von BSE auf den Menschen, nicht eingetreten ist. Trotzdem würde ich auch heute wieder genauso handeln.

Eine ähnlich überzogene Risikobereitschaft vieler Menschen wie damals finden wir übrigens immer wieder. Ein besonders alarmierendes Beispiel ist der Bau und Betrieb von Kernkraftwerken. Wenn »Experten« sagen, statistisch käme es nach »derzeitigen Erkenntnissen« nur alle 10.000 Jahre bis 30.000 Jahre zu einer Kernschmelze, erscheint das Risiko verschwindend gering. Wenn wir diese Jahreszahl aber durch die Anzahl der Reaktoren teilen, die auf unserem Kontinent stehen (ca. 150), landen wir auch hier wieder in der Größenordnung von einem Prozent. Andere Berechnungen gehen sogar noch von einem deutlich höheren Risiko aus. Demnach liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es in Europa innerhalb von 40 Jahren zu einem Super-GAU kommt, bei rund 16 Prozent. Anders ausgedrückt, bei 1 zu 6. Das entspricht der Wahrscheinlichkeit, beim Würfeln eine Sechs zu würfeln. Und das allein in Europa! Statistisch gesehen waren die bisherigen großen Katastrophen Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima also durchaus nicht außergewöhnlich, sondern zu erwarten. Gewissermaßen alles nach Plan und innerhalb des bekannten Risikos. Um das Risiko herunterzuspielen, spricht man dann gerne verharmlosend statt vom »Risiko« vom »Restrisiko« – als ob diese Worthülse irgend etwas anderes bedeute.

Für dieses Kapitel finde ich kein amüsantes Schlusswort. Mir ist einfach nur schlecht. Und das nicht vor Hunger.

 

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