Spiel gegen den Abstieg – Über das Leid im Verborgenen

Wie viele Menschen krank und behindert sind, nehmen wir vielfach gar nicht wahr, denn wir begegnen ihnen nicht in unserem Alltag …

Samstagnachmittag. Heute spielt der 1. FC Nürnberg wie so oft wieder einmal gegen den Abstieg in die zweite Liga. Letzte Chance. Über 50.000 Menschen sind im Stadion, wir mittendrin. Die Atmosphäre ist beeindruckend. Beim Anpfiff kann ich ein klein wenig erahnen, wie sich die Gladiatoren fühlen mussten, als sie im alten Rom die Arena des Kolosseums betraten.

Das Spiel ist spannend. Die Menge raunt, bangt, schimpft, leidet. »Brot und Spiele«, denke ich, dieses System funktioniert auch nach 2000 Jahren noch so gut wie am ersten Tag. Biete den Massen Unterhaltung, dann kommen sie nicht auf dumme Gedanken.

»Tor!« 1:0 für den »Club«. Die Masse tobt. Auch mich reißt es vom Stuhl, obwohl das sonst weniger meine Art ist. Sich dem Rausch der Masse zu entziehen, ist so gut wie unmöglich. Nur ein Junge zwei Reihen vor uns, ungefähr so alt wie mein Sohn, mag sich nicht so recht von der Euphorie anstecken lassen. Ich kann nur seinen Oberkörper sehen. Er sieht schmal aus. Seine Haare wirken dünn. Als er sich ein wenig zur Seite dreht, erschrecke ich. Seine Wangen sind eingefallen wie die eines alten Mannes.

Sonst wirken alle Menschen hier so vital, und plötzlich dieser eine offenbar schwerkranke Junge. Das stimmt mich nachdenklich. Wir sind den ganzen Tag mehr oder weniger nur von gesunden Menschen umgeben. Dadurch gewöhnen wir uns an diesen Zustand als vermeintlichen Normalzustand. Wie viele Tausend Menschen jetzt gerade aber wohl in Heimen und Krankenhäusern liegen? Vielleicht am Sterben sind? Obwohl ich solche Gedanken gerne verdränge, muss ich einmal nachrechnen. Ausgerechnet jetzt, wo das Spiel so spannend ist! Manchmal tickt da bei mir schon etwas nicht richtig. Aber es muss sein. Ich überlege: Gehen wir grob von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren aus, und davon, dass hier im Stadion 50.000 Menschen gleich verteilten Alters sitzen, dann werden im nächsten Jahr um diese Zeit 625 dieser Menschen gestorben sein. Nicht mehr da. Einfach weg. So als stünde nachher jemand am Ausgang und würde 625 von uns aussortieren. Eine gruselige Vorstellung.

Mir wird klar: Nicht nur die Mannschaft spielt heute gegen den Abstieg. Ich wünsche uns allen viel Glück. Ganz besonders dir, unbekannter Junge vor uns.

 

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