Kein Gramm zu viel – Über unsinnigen Perfektionismus

Ist bei einem Fahrrad eine Gewichtsersparnis bis ins letzte Gramm überhaupt sinnvoll und wirtschaftlich? Gerne machen uns Verkäufer hier etwas vor …

Ich liebe mein Fahrrad! Ich bin einer jener Bewegungsfanatiker und Idealisten, die am liebsten das Auto stehen lassen und selbst in die Pedale treten. Schlimmer noch: Ich fahre oft sogar ganz unsinnigerweise einfach planlos durch die Gegend und hänge so meinen Gedanken nach.

Mein derzeitiges Fahrrad fahre ich jetzt seit mehr als 25 Jahren. Die meisten Teile daran sind schon lange nicht mehr die Originalteile, sondern mehrfach ausgetauscht. Obwohl ich alle Reparaturen selbst mache, ist das eigentlich kaum mehr wirtschaftlich. Aber ich hänge irgendwie an dem Rad.

Heute bin ich mal wieder am Ölen, Schrauben und Fluchen. »Willst du dir nicht lieber mal ein neues Rad kaufen?«, fragt meine Frau mitleidig. »Das ständige Reparieren lohnt sich doch gar nicht mehr: die viele Arbeit und die Ersatzteile.« Blöde Kommentare haben mir jetzt gerade noch gefehlt. »Nein, das Rad ist doch noch wie neu«, entgegne ich. »Außerdem wird mir dieses Rad nicht geklaut, wenn ich es irgendwo abstelle.« Meine Frau scheint meine Antwort überhört zu haben und redet einfach weiter. »Dann könnten wir für mich gleich auch einmal nach einem neuen Rad sehen. Dann würde ich auch öfter mal mit dir mitfahren.« Aha. Daher weht der Wind. Hätte mir gleich komisch vorkommen sollen, wenn sie sich darüber Sorgen macht, dass ich mich überarbeiten könnte. »Also gut. Aber ich behalte mein Rad. Ein neues Fahrrad wird schon teuer genug.«

Eine Woche später fahre ich das neue Fahrrad meiner Frau vom Händler nach Hause. Sie selbst fährt mit dem Auto zurück. Das sei besser so, meint sie, weil sich ihr Sitzfleisch erst langsam an den neuen Sattel gewöhnen müsse. Also fahre ich jetzt die fünfzehn Kilometer auf einem anatomisch für die männliche Familienplanung höchst ungeeigneten Damensattel. Abgesehen von der unguten Druckmassage muss ich zugeben: Das Fahrrad fährt sich klasse. Besser als meines. Na ja – fast besser. Das stimmt mich dann doch nachdenklich.

Kurze Zeit später stehe ich wieder im Fahrradgeschäft. Welche Anforderungen ich denn an mein neues Fahrrad hätte, will der Verkäufer wissen. Stabil soll es sein, sage ich (Sie wissen schon: die nächsten 25 Jahre). Außerdem bergtauglich (ich wohne auf einer Anhöhe). Und nicht zu teuer. Ich möchte es auch mal abstellen können, ohne einen Diebstahl fürchten zu müssen.

Also wenn ich am Berg wohne, würde er mir unbedingt zu einem dieser leichten Premium-Bikes raten, meint der Verkäufer. Die seien mehrere Hundert Gramm leichter als die günstigeren Modelle. Damit täte ich mich am Berg wesentlich leichter. Die Räder machen auch einen recht guten Eindruck – vom Preis einmal abgesehen. Ein solches Rad müsste ich schon mit einem sehr guten Schloss sichern, wenn ich es irgendwo draußen abstelle. So ein Super-Schloss, wie ich es vor ein paar Wochen zufällig in der Hand hatte, als ich meinem Sohn für ein Fahrrad ein neues Schloss kaufte. Das Ding wog bestimmt anderthalb Kilo (das Schloss, nicht das Fahrrad). Moment: Dann wäre das teure Rad zusammen mit dem Super-Schloss schwerer als ein billigeres Rad mit einem billigeren Schloss. Ist das nicht widersinnig? Außerdem: Was sind schon ein paar Hundert Gramm im Verhältnis zu meinem Körpergewicht plus dem Gewicht von Kleidung und Gepäck? Sofern ich nicht gerade die Tour de France fahre, ist das doch vollkommen vernachlässigbar. Wenn ich vor der Fahrt pinkeln gehe, hat das wahrscheinlich einen größeren Effekt. Wir Deutschen sind manchmal schon seltsame Perfektionisten.

»Gibt es eigentlich gar keine Stahlrahmen mehr?«, frage ich den Verkäufer. »Nein«, meint dieser. Stahl sei viel zu schwer und daher heute nicht mehr gefragt. Außerdem sei Alu rostfrei. Also wenn ich ehrlich bin, hat auch mein altes Rad nach 25 Jahren nicht wirklich Rost am Rahmen angesetzt. Und schon gar nicht so viel, dass der Rost die Funktion oder Stabilität irgendwie beeinträchtigen würde. Aber genau die Stabilität ist es, die mich an Aluminium zweifeln lässt. Ich kenne meine Fahrweise. Und ich kenne die Sorgfalt, mit der Fahrräder an öffentlichen Abstellplätzen, zum Beispiel am Bahnhof oder vor dem Freibad, behandelt werden. Außerdem hatte ich früher einige Bekannte, deren Alurahmen gebrochen sind. Das war dann nicht nur teuer, sondern vor allem auch richtig gefährlich. »Das passiert heute nicht mehr«, beruhigt mich der Verkäufer. »Heute sind die Alu-Rahmen viel dicker«. Wenn ich mir die klobigen Dinger so ansehe, hat er wohl recht. Aber sie wiegen dann nahezu dasselbe wie ein entsprechend dünnerer Stahlrahmen. Welch Ironie!

Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, mein robustes altes Schätzchen gegen so ein stylisches Alu-Ungetüm einzutauschen. Ich muss da noch mal drüber schlafen.

Nachtrag: Drei Jahre später. Ich fahre noch immer mein altes Fahrrad. Es sind dringend wieder einige teure Ersatzteile fällig. Eigentlich wäre jetzt endgültig der richtige Zeitpunkt, um … Aber Sie ahnen sicher schon, wie die Geschichte weitergehen wird. Ich auch.

 

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