Hauptstadt der Phrasen – Über beschönigende Formulierungen

Beschönigende Formulierungen prägen oft die Phrasen von Politikern und die Berichte in den Medien. Wenn wir genau hinhören, erkennen wir die heiße Luft …

Eigentlich hätte ich heute einen wichtigen Kundentermin in Berlin. Eine Softwarefirma möchte dringend ihre wortreich und blumig formulierten aber für die Benutzer reichlich wertlosen Handbücher und Online-Hilfen überarbeiten. Das hätte für einen auf Software-Dokumentation spezialisierten Technischen Redakteur wie mich ein schönes Projekt werden können. Stattdessen liege ich mit 40 Grad Fieber im Bett. Der Kopf schmerzt und ich dämmere in einem unerquicklichen Delirium zwischen Wachsein und Schlaf. Seit Stunden kreisen meine Gedanken unablässig um denselben Traum. In diesem Traum fahre ich nach Berlin und werde dabei mit lauter schön klingenden aber inhaltsleeren Phrasen zugetextet, die ich dann vereinfachen muss. Solche Träume kann auch nur jemand haben mit einem so bescheuerten Beruf wie ich.

Langsam döse ich wieder ein … Der »aktuellste« Verkehrsservice von Radio-Irgendwie spricht von Stau auf der Sowieso-Allee. Ob ich da gerade bin? Keine Ahnung. Aber der Radiosender scheint richtig auf Zack zu sein. Aktuell ist noch nicht aktuell genug. Nein, hier ist man noch aktueller. Gewissermaßen schon in der Zukunft. Vor mir Hunderte Autos, hinter mir Hunderte Autos. Die Luft stinkt, selbst hier in der »Umweltzone«, in der doch eigentlich nur »schadstoffarme«, »umweltfreundliche« Autos fahren dürfen. Aber wenn die wirklich »freundlich« zur Umwelt wären, müssten sie da der Umwelt nicht sogar noch etwas Gutes tun? Tun sie aber nicht. Ehrlicher wäre es da schon, von »nicht maximal umweltschädlichen« Autos zu sprechen.

Meine Schleichfahrt führt mich mitten durch das Regierungsviertel, als im Radio die »News« (Nachrichten) beginnen: Aufmacher ist eine Meldung, dass das »Verteidigungsministerium« (Kriegsministerium) plane, weitere Soldaten der »Bundeswehr« (der Armee) in ein »Krisengebiet« (an einen Kriegsschauplatz) zu entsenden. Zur Verstärkung einer »Friedensmission« (eines Kriegseinsatzes). Dies würde notwendig, weil der »Friedensprozess ins Stocken geraten sei« (immer noch Krieg herrscht). Erst kürzlich sind 10 Soldaten in ein »Friendly-Fire« geraten (von Kameraden beschossen worden) und drei Soldaten davon »gefallen« (gestorben). Leider bliebe immer ein gewisses »Restrisiko« (Risiko), meint ein Sprecher in einem Interview. Bislang seien dies aber »seltene Ausnahmeerscheinungen« (Ausnahmen) gewesen, ebenso wie die jüngst zu beklagenden »Kollateralschäden« (zivilen Opfer). Aber dank »alternativer Verhörmethoden« (Folter) kämen in letzter Zeit immer mehr Gräueltaten der Gegenseite ans Tageslicht, die den Einsatz rechtfertigten, davon sei er »restlos überzeugt« (überzeugt). Das Vorgehen sei »alternativlos« (berechtigt).

Jetzt komme ich in ein Stadtviertel mit einem hohen Bevölkerungsanteil an »bildungsfernen Bevölkerungsschichten« (Ungebildeten) und »Mitbürgern mit Migrationshintergrund« (Einwanderern). Die Straße wird holprig. Eine Sanierung ist derzeit vermutlich zu »kostenintensiv« (teuer). Doch dies öffentlich zuzugeben, wäre »suboptimal« (schlecht).

Vor dem Eingang eines »internationalen Spezialitätenrestaurants« (einer Dönerbude) liegt eine regungslose Person. »Ordnungskräfte« (Polizisten) haben das Gelände abgeriegelt. Offenbar mussten sie »von der Schusswaffe Gebrauch machen« (schießen), weil »nicht auszuschließen« (möglich) war, dass der Täter ein »erhebliches Gefährdungspotenzial für die öffentliche Sicherheit darstellte« (gefährlich war). Jetzt ist er »seinen Schussverletzungen erlegen« (tot).

Inzwischen laufen im Radio die Wirtschaftsnachrichten. Eine »Beitragsanpassung« (Erhöhung) der Sozialabgaben sei »unausweichlich« (nötig), wird ein Politiker zitiert. Falls es zu einem »Minuswachstum« (einer Rezession) komme, sei eine Anhebung der »Mehrwertsteuer« (Umsatzsteuer) der falsche Weg, betont eine andere Partei. Sonst müssten viele Firmen noch mehr Mitarbeiter »freisetzen« (entlassen). Auch eine »Entzerrung des Preisgefüges« (Verteuerung) sei in nächster Zeit zu erwarten. »Notleidenden Banken« (Pleitebanken) müsse auch in Zukunft geholfen werden, um »Irritationen der Märkte« (Panik) zu vermeiden. Mir schwirrt der Kopf. Warum habe ich heute nur solche verdammten Kopfschmerzen?

Endlich lasse ich das heruntergekommene Stadtviertel hinter mir. Auf der rechten Straßenseite liegt ein kleiner Park. Früher stand hier einmal der »Antiimperialistische Schutzwall« (die Berliner Mauer). Den Namen des Parks kenne ich aus dem Fernsehen. Neben »Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz« (Drogenhandel) sollen hier auch »sexuelle Übergriffe« (Vergewaltigungen) »nicht selten« (häufig) sein. Unmittelbar neben dem Park liegen ein »Wohnpark« (eine Wohnanlage) und eine »Seniorenresidenz« (ein Altersheim).

Endlich erreiche ich meine Zieladresse: einen großen »funktionalen« (hässlichen) Bürobau mit 10 Eingängen. Ich bin spät dran, daher frage ich den zufällig vorbeikommenden »Facility-Manager« (Hausmeister) nach dem richtigen Eingang. Der Mann trägt einen »unvorteilhaften« (hässlichen), »aus der Mode gekommenen« (altmodischen) Pullover, macht aber einen auf cool und sagt, das »Office« (Büro) befände sich im »Basement« (Keller). Dort aber finde ich niemanden. Ich komme zu spät! Ich will schneller laufen, aber es geht nicht. Endlich wache ich verschwitzt auf. Kein schöner Traum.

Ich stehe auf und gehe einen Schluck trinken. Bloß nicht wieder einschlafen! Dieser Traum war mir einfach zu real.

 

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