Alles Käse – Über Lebensmittel mit viel »Mitteln«

Nicht immer ist so viel von etwas in einem Lebensmittel enthalten, wie uns geschicktes Marketing glauben macht …

Anfang November. Meine Frau hat Geburtstag. Bevor am Nachmittag die Gäste zum Kaffee erscheinen, setze ich mich am Mittag zusammen mit meinem Sohn zu einer kleinen Brotzeitpause auf die von der noch warmen Herbstsonne beschienene Terrasse. Meine Frau verzichtet gleich ganz auf das Mittagessen, um sich später voll den diversen Kuchen und Torten widmen zu können. Aber mir dauert das zu lange. Außerdem will ich endlich den neuen Käse probieren, den ich gestern im Supermarkt entdeckt habe: »Frischkäse mit Steinpilz – Nur für kurze Zeit«. Nachdem in diesem trockenen Herbst meine eigenen Bemühungen, im Wald Pilze zu finden, weitgehend erfolglos blieben, wollte ich mir das unbedingt gönnen. Der Preis war bezahlbar, also landete der Käse ohne langes Nachdenken als »Impulskauf« im Einkaufswagen. Schön auf Augenhöhe war der Käse im Kühlregal platziert, sodass man ihn »ganz zufällig« einfach entdecken musste. Eigentlich halte ich mich für zu klug, auf so einen Köder hereinzufallen, aber die Gier war in diesem Moment einfach stärker. Ich tröstete mich dann damit, dass ich, anders als andere, auch nicht auf den Köder hereinfiel, sondern freiwillig zugriff. Na ja, fast.

Jetzt ist es endlich soweit. Mein Sohn und ich bestreichen das erste Brötchen mit dem Käse und – unsere Blicke treffen sich über der Tischmitte – wir sind uns einig: Der schmeckt richtig gut! Ich streiche mir gleich noch ein Brötchen, und noch eines und mein Sohn auch noch eines. Am Ende ist die Käsepackung fast leer. Den kleinen Rest noch aufzuheben, lohnt sich jetzt auch nicht mehr. Also opfere ich mich freiwillig und esse den Rest auch noch – diesmal ohne Brötchen. Ich will schließlich nicht zu dick werden. Aber ob da am Nachmittag in Sachen Geburtstagstorte noch viel gehen wird, ist inzwischen fraglich. Egal. Es hat sich gelohnt.

Ein wenig flau ist mir jetzt schon im Magen. Um einen Vorwand zu haben, noch nicht aufstehen zu müssen, studiere ich die leere Verpackung des Käses. Auf der Vorderseite sehe ich fünf knackige Steinpilze, etwas abgesetzt davon noch einmal zwei. Dazu eine dick mit dem Käse bestrichene Scheibe eines rustikal anmutenden Bauernbrots. Die Pilze sind ungefähr viermal so groß wie das Brot. Auch in dem Käse sind dicke Pilzstückchen zu erkennen. Jetzt werde ich stutzig: Ist das derselbe Käse, den ich gerade gegessen habe? Der sah irgendwie anders aus. Da waren nur ein paar winzige dunkle Punkte drin, aber Pilzstückchen sind mir keine begegnet.

Ich drehe die Packung um und studiere die Zutatenliste. Eigentlich brauche ich für die bewusst klein gewählte Schrift bereits eine Lesebrille, aber in der hellen Mittagssonne geht es noch ohne: 100% natürliche Zutaten. Das klingt schon mal gut. Scheint also alles echt zu sein. Wie erwartet, ist die Hauptzutat Frischkäse. Dann folgen Steinpilze (3%), Kräuter, Gewürze, Speisesalz, Zitronensaft, Zucker und Verdickungsmittel Johannisbrotkernmehl. Alles paletti.

Jetzt müsste ich eigentlich aufstehen, und meiner Frau beim Herrichten der Geburtstagstafel helfen, aber ich blinzele lieber noch ein wenig in die Sonne. Drei Prozent Steinpilze und dabei dieser tolle Geschmack? Nun werde ich wieder wach. Wie viel Steinpilz ist denn da eigentlich in so einem Käse drin? Als Ingenieur will ich das jetzt genau wissen. »Kannst du mal bitte aus dem Keller noch vier zusätzliche Stühle holen?«, ruft meine Frau. Ich gehe stattdessen ins Dachgeschoss und hole meinen Taschenrechner, um nachzurechnen: Der Inhalt der Packung beträgt (angeblich) 150 Gramm, de facto dürfen es nach der EU-Fertigpackungsrichtlinie in diesem Fall bis zu 6,75 Gramm weniger sein. Aber an so einem schönen Tag will ich an einen ehrlichen Hersteller glauben. Ich rechne weiter: Wenn der Anteil Steinpilze wie auf der Verpackung angegeben 3 Prozent beträgt, sind dies 3 Prozent von 150 Gramm. Das macht 4,5 Gramm Steinpilze. Aber wie viele Pilze sind das jetzt? Ich suche nach einem Vergleichswert. Ah, wir hatten ja auch eine Packung frischer Champignons gekauft. Solche in einer blauen oder schwarzen Plastikschale, die kennen Sie sicher auch. Da waren 500 Gramm drin. Wenn das Steinpilze wären, dann könnte ich …, ich teile 500 durch 4,5 … Wow! Wenn das Steinpilze wären, dann könnte ich daraus sage und schreibe 111 (in Worten: einhundertundelf) Packungen Steinpilz-Käse herstellen! Viel Pilz kann da in einer Packung Käse nicht sein.

Wo aber kommt da nur der umwerfende Pilzgeschmack des Käses her? Der schmeckt fast noch intensiver nach Pilz als reiner Steinpilz selbst. Das wird wohl das Geheimnis der »Gewürze« aus der Zutatenliste sein. Dann waren die kleinen dunklen Punkte im Käse vermutlich auch gar keine Pilzstückchen, sondern die »Kräuter«. Etwas grober geschnitten – rein zufällig natürlich.

Was haben wir da nur für einen Käse gegessen? Aber lecker war’s schon! Mein Sohn will den Mogel-Käse unbedingt wieder haben. Und ich auch. Das wird mich beim nächsten Einkauf in einen Zwiespalt stürzen: Folge ich meinem Verstand oder meinem Gefühl? Ich fürchte, ich kenne die Antwort schon. Allem kann ich widerstehen, nur der Versuchung nicht.

 

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