Aus der Norm – Über ADHS und die freie Entwicklung von Kindern

Nicht jeder Fall von ADHS oder anderer sog. Entwicklungsstörungen ist ein Fall für Arzt und Förderschule. Manchmal müssten unsere Kinder nur Kind und sein dürfen …

Die Erzieherin im Kindergarten hat uns zu einem Gespräch gebeten. Ihr gewichtiger Blick lässt nichts Gutes erahnen.

Also gut. Wir setzen uns auf zwei der angebotenen Kinderstühlchen. Gefühlt befinden sich jetzt meine Knie in etwa auf Schulterhöhe. Die Lehne drückt unsanft und hartnäckig in die Hüfte. Abwechselnd findet entweder die rechte oder die linke Pobacke auf der Sitzfläche Platz.

Ihnen sei aufgefallen, beginnt die Erzieherin, dass unser Sohn ernsthafte Probleme habe. Seine Entwicklung sei nicht altersgemäß. Er sei nicht in der Lage, dem Vorschulunterricht in angemessener Weise zu folgen. Außerdem sei er generell sehr unachtsam. Das äußere sich zum Beispiel darin, dass er träumend in die Luft gucke und dann über die Spielsachen der anderen Kinder falle. Wir sollten unbedingt bald mit der Kinderärztin wegen einer Behandlung sprechen und uns schon einmal mit der naheliegenden Förderschule in Verbindung setzen, um ihn da vormerken lassen. Außerdem müsse er dringend zur Logopädie und Ergotherapie.

Nach dieser Breitseite fühlen wir uns so klein, dass wir eigentlich auf die Kinderstühlchen passen müssten. Wir sind erst einmal sprachlos und überfordert von der Situation. Förderschule? Das hieß zu unserer Jugendzeit noch ganz unverbrämt »Sonderschule«. Wir hatten bisher immer an Gymnasium und Universität gedacht. Ganz andere Pläne gehabt …

Kurze Zeit später ist Probeunterricht in der Grundschule. Der ist für alle Kinder verpflichtend, die im kommenden Herbst das schulpflichtige Alter erreichen. Dadurch, dass in den letzten Jahren die Grenze dieses Alters immer weiter vorverlegt wurde, wäre unser Sohn in diesem Jahr »fällig«. Unser Ziel ist es, dass bei unserem Sohn erst einmal festgestellt wird, dass er noch nicht schulfähig ist. Erst mal Zeit gewinnen. Nach dem Probeunterricht druckst die Lehrerin dann auch etwas seltsam herum. »Wissen Sie, wir glauben, es wäre besser ihn noch ein Jahr zurückzustellen. Er ist doch noch sehr verspielt und nicht am Lernen interessiert. Wir haben dieses Jahr ohnehin schon zu viele Schüler.« Bingo! Das Wort »Förderschule« nimmt sie zum Glück nicht in den Mund.

Da unser Sohn in seinem jetzigen Kindergarten nun unwiderruflich den Stempel »Dummerchen« auf seiner Stirn trägt, beschließen wir, zum Herbst den Kindergarten zu wechseln. Dort blüht er regelrecht auf und mutiert nach wenigen Wochen im Vorschulunterricht zum Musterschüler. Er war in seiner Entwicklung einfach nur ein paar Monate später dran als andere. Heute besucht er im Gymnasium die 8. Klasse.

Was aber wäre gewesen, wenn die Grundschule dringend noch Schüler gebraucht und ihn nicht zurückgestellt hätte. Was wäre gewesen, wenn wir gleich zur Förderschule mit ihm gegangen wären? In welche Schiene wäre er möglicherweise geraten? Wäre er aus dieser Schiene jemals wieder herausgekommen?

Wie kann eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft ihre Mitglieder in ein festes Raster pressen und von jedem erwarten, in allen Bereichen gleich schnell zu sein, alles, was aus diesem Raster herausfällt, gleich als »krankhaft« betrachten? Oft bestünde die »Heilung« einfach darin, Menschen zu erlauben, so zu sein, wie sie eben nun einmal sind.

Und ganz unter uns: Haben wir nicht alle irgendwo eine Macke? Die einen mehr, die anderen noch mehr.

 

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